Kommt der Naturschutz unter die Räder?

Ein Gutachten, das die Stadt in Auftrag gegeben hat, erwartet bei einer Bebauung des Itzumer Wasserkamps keine Nachteile für das nahe Schutzgebiet Am roten Steine. Naturschützer widersprechen. Das Gutachten habe Defizite.

Von Marita Zimmerhof

Hildesheim. Wenn der Wasserkamp als Baugebiet freigegeben wird, könnten südwestlich der Marienburger Straße auf 35 Hektar bis zu 600 neue Häuser entstehen, so die Pläne der Stadt. Problem nur: Im Südwesten grenzt das Gelände auf einer Länge von einem Kilometer an das 87 Hektar große Faunen- und Florenhabitat (FFH) „Beuster“, zu dem entlang der Innerste auch das Naturschutzgebiet „Am roten Steine“ gehört. Das umfasst in etwa den Flussabschnitt nördlich von Marienrode bis südlich des Lönsbruchs.

HAZ-Grafik Anja Brinkmann, maps4news/©here Quelle Stadt Hildesheim

FFH-Gebiete stehen unter strengem Schutz der EU: Wann immer in ihrem Umfeld in die Landschaft eingegriffen wird, muss zuvor geprüft werden, ob geschützte Areale und die darin lebenden Tiere und Pflanzen davon berührt werden könnten. Im konkreten Fall bedeutet das: Hat es auf das Naturschutzgebiet rechts und links des Innerste-Ufers überhaupt keine Auswirkungen, wenn direkt daneben plötzlich ein neues Stadtviertel mit Licht- und Lärmquellen und jeder Menge Verkehr und Bodenbewegung entsteht?

Mit der „Verträglichkeitsvorprüfung“ hat die Stadt ein Planungsbüro in Braunschweig beauftragt. Herausgekommen ist ein 19-seitiges Gutachten, das im August vorgelegt wurde. Kämen die Gutachter darin zu der Überzeugung, dass das Baugebiet die Qualität des Naturschutzgebietes verschlechtern könnte – nicht einmal müsste – wäre die Stadt nach EU-Recht gehalten, eine umfassendere FFH-Hauptprüfung in Auftrag zu geben. In dieser Studie müsste dann eine detailliertere Betrachtung gemacht werden, welche Folgen die neue Siedlung auf die geschützte Tier- und Pflanzenwelt haben könnte.

Gleich vorweg: Die Gutachter sehen in dem Bauvorhaben „keinerlei Beeinträchtigungen des Schutzgebietes und seiner Erhaltungsziele“. „Prioritäre Tierarten“ seien für das Gebiet nicht beschrieben und somit nicht betroffen. „Die wertbestimmenden Arten des Gebietes, Bachneunauge und Groppe, kommen in erster Linie in der Beuster, potenziell auch in der Innerste vor. Da die Wasserkörper vom Vorhaben nicht betroffen sind, liegen die Vorkommen außerhalb des Wirkbereichs des geplanten Vorhabens.“

Die Groppe ist ein kleiner Süßwasserfisch mit gedrungenem Körperbau und breitem Kopf, das Bachneunauge erinnert im Körperbau an einen kleinen Aal, ist aber kein Fisch, sondern gehört zu den Kieferlosen. Neunaugen gelten als lebende Fossilien, die sich seit 500 Millionen Jahren kaum verändert haben.

Für die Gutachter steht fest: Das geplante Baugebiet beeinträchtigt das Naturschutzgebiet nicht. Daraus folgt: „Eine Fortführung einer vertiefenden FFH-Verträglichkeitsprüfung ist nicht erforderlich.“

Als das Papier Ende August im Stadtentwicklungsausschuss (Steba) vorgestellt wurde, war Maren Burgdorf mindestens erstaunt. Sie ist seit Jahren im Gremium beratendes Mitglied, kennt als Leiterin der Botanikgruppe des Ornithologischen Vereins (OVH) die heimische Flora wie kaum eine andere. Das Gutachten aber geht mit keiner Silbe auf hier lebende Insekten, Vögel, Fledermäuse oder Reptilien ein, als schützenswerte Pflanzen werden nur die Echte Hundszunge und der Deutsche Ziest hervorgehoben.

Echt selten: die rotblühende Echte Hundszunge Foto: Jagel/DPA

Im Namen des OVH verfasste Burgdorf deshalb eine Stellungnahme zur Verträglichkeitsvorprüfung, die unter anderem der Stadt, dem Steba und anderen Naturschutzverbänden zuging. Darin heißt es unmissverständlich: Das Gutachten weise „inhaltliche und methodische Defizite“ auf und sei „nicht geeignet“, eine mögliche Beeinträchtigung des FFH-Gebiets mit Gewissheit auszuschließen.

Bei einer stark wachsenden Bevölkerungszahl komme es durch Spaziergänger, Radfahrer und Freizeitsportler zu Beunruhigungen der Tierwelt und Trittschäden auf dem empfindlichen Trockenrasen und den Flachlandwiesen. Bei 600 Wohneinheiten könne wohl von 100 Hunden und 130 Katzen ausgegangen werden, von denen viele frei herumstreifen dürften. Das gefährde nicht nur die Vogelwelt, sondern führe durch Exkremente auch zu einem hohen Nährstoffeintrag.

Die „Bürgerinitiative für eine lebenswerte Marienburger Höhe“, die den Bauplänen am Wasserkamp kritisch gegenübersteht und ebenfalls die Qualität des Braunschweiger Gutachtens bemängelt, argumentiert in einem Schreiben an Oberbürgermeister Ingo Meyer ähnlich: Bei 100 Kilogramm Tierexkrementen täglich würden jährlich 36 Tonnen Nährstoffe zusätzlich zur Hintergrundbelastung durch den Stickstoffeintrag aus der Luft ins Schutzgebiet eingetragen, so Kurt Warmbein im Namen der BI.

Die Verkettungen sind aber noch komplexer: Um die Lebensräume Halbtrockenrasen und Flachland-Mähwiese zu erhalten, müssen sie kontinuierlich beweidet werden. Derzeit halten zehn Pferde und sechs Brillenschafe, die ihrerseits zu einer vom Aussterben bedrohten Haustierrasse gehören, die Vegetation kurz. Durch Angriffe freilaufender Hunde sind am Schutzgebiet Osterberg wiederholt Weidetiere angegriffen und auch getötet worden. „Das ist bereits zahlreich vorgekommen“, versichert Burgdorf.

Anders als am Osterberg könnten die Tiere am steilen Hang des roten Steines aber kaum flüchten. „Solche Angriffe würden sich fatal auswirken.“ Und möglicherweise die Konsequenz haben, dass die Viehhalter ihre Tiere abziehen.

Die Gutachter heben zwar die Biotopvielfalt mit ihren „typischen, seltenen Landschaftsstrukturen“ hervor, meinen aber, dass „die Sicherung, Entwicklung und Wiederherstellung eines günstigen Erhaltungszustands […] weiterhin uneingeschränkt möglich“ sei. Sie empfehlen nicht näher erläuterte „Immissionsplanzungen“ zwischen Bau- und Schutzgebiet. „Nach meinen langjährigen Erfahrungen als ehrenamtliche Betreuerin im Naturschutzgebiet werden Lenkungsmaßnahmen nicht akzeptiert“, hält Burgdorf dagegen. Ausschilderungen würden ignoriert, Wegsperrungen einfach weggeräumt. Es wäre „praxisfernes Wunschdenken“ zu glauben, dass Besucher solche Barrieren akzeptierten. Ihre Schlussfolgerung: Mit oder ohne Besucherlenkung werde sich der Erhaltungszustand des FFH-Gebiets bei Realisierung des Baugebiets verschlechtern. Die anderslautende Aussage des Gutachtens sei „nicht belegt“. Der OVH behalte sich deshalb vor, seine Bedenken auch der EU-Kommission vorzutragen.

Wie wertvoll das Schutzgebiet ist, zeigen jahrelange Kartierungen des OVH mit vielen Arten von der Roten Liste: 34 Tagfalter- plus diverse Nachtfalterarten, sechs Libellen-, acht Wildbienen-, 15 Käfer-, acht Spinnen-, drei Reptilienarten sind hier nachgewiesen, dazu 90 verschiedene Vögel und Hunderte von Pflanzen. Biber, Fledermäuse und auch Groppe und Bachneunauge sind den Blicken nicht entgangen.

Im jüngsten Steba hat Planungsamtsleiterin Sandra Brouër das Braunschweiger Gutachten inzwischen übrigens als Momentaufnahme eingeordnet – und im Rahmen des B-Plans eine FFH-Verträglichkeitsprüfung nicht mehr ausgeschlossen.

©HAZ 11.10.2019