Aus der Hildesheimer Allgemeine Zeitung 18. Juli 2020 

In Stadt und Kreis Hildesheim gibt es viele landschaftliche Besonderheiten, um die uns Naturliebhaber aus anderen Regionen beneiden. Die HAZ stellt in einer neuen Serie sehenswerte Naturreservate vor. Heute: Der Heberberg

Die Mückenhändelwurz, eine streng geschützte heimische Orchidee, blüht auf den Lichtungen des Heberberges in üppigen Beständen.

DIE MÜCKENHÄNDELWURZ, EINE STRENG GESCHÜTZTE HEIMISCHE ORCHIDEE, BLÜHT AUF DEN LICHTUNGEN DES HEBERBERGES IN ÜPPIGEN BESTÄNDEN.

Man braucht eine gute Portion Geografiekenntnis, um zu wissen, wo der Heberberg liegt. Der Berg, mit seinen 279 Höhenmetern eher ein langgestreckter sanfter Hügel rund 50 Meter über Grund, wurde in der südöstlichen Verlängerung von Lamspringe einst durch einen darunterliegenden Salzstock in die Höhe gehievt. Erst ein ganzes Stück weiter beginnt dann der mehrere Kilometer lange Höhenzug Heber. Warum der gleichnamige Berg nicht dort zu finden ist, bleibt wohl auf ewig ein Rätsel. Doch einen Besuch ist dieses hübsche, 15 Hektar große Naturschutzgebiet allemal wert.http://www.e-pages.dk/hildesheim/4893/assets/76696c0f1243fbb146acdb144cc0b94b34d64f20_max1024x.jpg

Alle Fotos Werner Kaiser

Dass das Areal 1989 als Schutzgebiet ausgewiesen wurde, verdankt es vor allem einem Mann: Gerd Heine. Früh erkannte er die Schönheit dieses kleinen Fleckchens Erde. Doch um Behörden zu überzeugen, braucht es mehr als romantische Schwärmerei. Dafür braucht es Fakten. Der Lamspringer aber war weder Tier- noch Pflanzenkundler, sondern Modellbauer bei Künkel und Wagner.

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Heine gab nicht auf. Als Autodidakt paukte er Botanik, bis ihm jedes noch so unscheinbare Pflänzchen auf dem Heberberg vertraut war. Ob Zottiger Klappertopf oder Wiesen-Flockenblume, ob Gewöhnlicher Natternkopf oder Dorniger Hauhechel: Bald kannte er sie alle. Mit seiner Bestandserfassung konnte er in den 1980er Jahren tatsächlich dazu beitragen, dass der Heberberg unter Schutz gestellt und damit für nachfolgende Generationen erhalten bleibt. Heine wandert noch immer gerne über den Kammweg, um sich an dem bunten Blütenmeer an der Südflanke des Rhüdener Sattels zu erfreuen. Wenn inzwischen auch etwas langsamer, denn der Vater des Naturschutzgebietes Heberberg ist bereits 89 Jahre alt.

Der Lamspringer Gerd Heine setzt sich seit Jahrzehnten für das Naturschutzgebiet Heberberg ein.

DER LAMSPRINGER GERD HEINE SETZT SICH SEIT JAHRZEHNTEN FÜR DAS NATURSCHUTZGEBIET HEBERBERG EIN.

Schon lange grasen hier oben keine Ziegen und Schafe mehr, die die Weiden auf dem flachgründigen Muschelkalk-Boden von Sträuchern freihalten würden. Deshalb sorgt nun die BUND-Ortsgruppe Lamspringe mit ihren ehrenamtlichen Arbeitseinsätzen dafür, dass Büsche und Bäume das kalkreiche, aber nährstoffarme Biotop nicht überwuchern.

Zu den Schätzen des Gebietes gehören die hübschen Gold- und Silberdisteln, der Fransen-Enzian, der tatsächlich so blau blüht wie der viel besungene Enzian, und der Deutsche Enzian, dessen zierliche Blüten sich rosarot öffnen. Intakte Halbtrockenrasen sind immer auch ein Paradies für Falter: Sobald die Sonne hervorkommt, tanzen über dem Blütenflor Schachbrettfalter, Bläulinge und mit etwas Glück sogar ein Kaisermantel.

Bei guter Fernsicht kann man im Südwesten den Brocken erkennen. Günter Löke setzt noch einen drauf: „Wir können sogar die Zugspitze sehen“, scherzt der BUND-Ortsgruppen-Vorsitzende und lässt seinen Blick nach Südosten streifen. Tatsächlich: Gerade rauscht ein ICE auf seinem Weg von Hannover nach Würzburg durchs Tal und beweist, dass der pensionierte Postbeamte nicht geflunkert hat.

Am Ende des Kammwegs lädt eine Bank zum Verweilen ein. Gleich daneben: ein Gedenkstein, den Lamspringer Naturschützer zu Ehren von Gerd Heine aufgestellt haben, und ein Wanderweg, der, wen wundert’s, natürlich ebenfalls Gerd-Heine-Weg heißt. Den Benannten hat diese Ehrung schon damals zu Tränen gerührt.

Zugleich beginnt an dieser Stelle ein Wäldchen mit skurrilen Baumgestalten. Um Brennholz zu gewinnen, haben die Altvorderen die Baumstämme einst dicht über dem Boden abgesägt, die Wurzeln aber nicht gerodet. Wie machtvoll das Leben der brachialen Attacke getrotzt hat, zeigt sich nun, viele Jahrzehnte später: Aus den Stümpfen sind neue Ruten ausgetrieben, die heute jede für sich wieder dick sind wie ein Baum. „Das ist einmalig im Kreis Hildesheim“, sagt Löke stolz.

Wer das Wäldchen betritt, riecht den angenehm würzigen Duft des Waldbodens. Glockenblumen und Akeleien gedeihen hier im lichten Schatten. Früh im Jahr, bevor sich das Blätterdach schließt, blühen bereits die zarten Leberblümchen, die ihren Namen den leberförmig gelappten Blättern verdanken.

Zwischen den Bäumen entdeckt man immer wieder tiefe Trichter von mehreren Metern Durchmesser. Sollten das Bombeneinschläge aus dem Zweiten Weltkrieg sein? Weit gefehlt. Als im 17. Jahrhundert die Lamspringer Klosterkirche neu errichtet wurde – die Ursprünge des einst mächtigen Benediktinerinnen-Klosters reichen bis ins Jahr 847 zurück –, haben die Bauarbeiter in Handsteinbrüchen Steine gebrochen. Als Baustoff wäre das Sediment des einstigen Urzeitmeeres viel zu weich, doch zwischen den bröckligen Kalkschichten gibt es immer wieder härtere Partien, die Terebratelbänke genannt werden. In ihnen verleihen die harten Schalen verendeter Armfüßler (Brachiopoden) dem Material hohe Stabilität – weshalb die Klosterkirche mit ihrer prächtigen Barockausstattung bis heute auf festen Mauern steht.

Auf einer Lichtung können Löke und sein Stellvertreter Wilhelm Frisch eine ganz besondere Kostbarkeit präsentieren: einen stattlichen Bestand Mückenhändelwurz. Der Name bezeichnet eine der größten heimischen Orchideen, die bis in den Juli hinein in kräftigem Violett blüht. An jedem Stiel sitzen viele kleine Einzelblüten, die durch ihren langen Sporn leicht von den ähnlich aussehenden Knabenkraut-Arten zu unterscheiden sind.

Bestäubt werden die Blüten von Schmetterlingen, deren Rüssel lang genug sein muss, um in der Blüte bis zum Nektar zu gelangen. Im August reifen dann Abertausende von Samen heran. Wie bei allen Orchideen sind sie so winzig, dass sie wie Staub vom Wind verweht werden. Das Gewicht eines einzigen Samens beträgt nur etwa ein Hundertstel Milligramm, da die Pflanze kein Nährgewebe bildet. Damit der winzige Embryo dennoch wachsen kann, braucht er einen Symbiosepilz, der ihn mit Nährstoffen versorgt. Jede Orchideenart hat ihren eigenen Pilz.

Das erklärt auch, weshalb sich Orchideen im Garten nicht wie Erbsen oder Bohnen aussäen lassen – und weshalb die streng geschützten Pflanzen eingehen, sobald man die Sensibelchen aus ihrem vertrauten Standort herausreißt. Doch derlei Frevel käme Naturfreunden, die sich an der Schönheit des Heberbergs erfreuen, eh nicht in den Sinn.

© Hildesheimer Allgemeine Zeitung

Wanderweg NSG “Heberberg” Karte erstellt von Matthias Köhler