Schätze vor unserer Haustür

Safari-Feeling an der Leine: Doch der König der Tiere ist hier Welsh-Black-Bulle Saylor.

In Stadt und Kreis gibt es viele landschaftliche Besonderheiten, um die uns Naturliebhaber aus anderen Regionen beneiden.  

Von Marita Zimmerhof

 

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Gronau. Früher war alles besser und die Natur noch heil und in Ordnung? Wer vor 100 Jahren in die Gronauer Masch gefahren wäre, hätte wahrscheinlich auf dem Absatz kehrt gemacht, denn in der Leine-Aue zwischen Gronau und dem Uthberg bei Betheln wurde zwischen 1795 und 1939 in großem Stil Ton zur Ziegelproduktion abgebaut. Über Jahrtausende hat die Leine hier eine bis zu sieben Meter hohe Kiesschicht aufgebaut, über der eine bis zu drei Meter hohe Tonschicht, der sogenannte Auelehm, liegt. Da der König von Hannover 1795 verboten hatte, Baustoffe ins Stift Hildesheim zu liefern, zugleich nach einem Großbrand in der Stadt Gronau der Bedarf an Ziegeln groß war, kam der Rohstoff gleich vor der Haustür den drei örtlichen Ziegeleien gerade recht.

Die ausgebeuteten Senken sind bis heute erkennbar. An Landschaftsschutz aber dachte damals noch niemand. Und selbst als Ornithologen – ein Jahr vor der offiziellen Gründung des Ornithologischen Vereins (OVH) anno 1953 und zugleich zehn Jahre nach Schließung der letzten Ziegelei – Teile des inzwischen von vielen Vögeln zurückeroberten Gebietes unter Schutz stellen lassen wollten, holten sie sich nach zwei Jahren zäher Verhandlungen ausgerechnet beim damaligen Naturschutzbeauftragten des Landkreises Alfeld eine Abfuhr. Erst 1968 fand ein Gesinnungswandel statt, wurde die Masch als Landschaftsschutzgebiet dem Reichsnaturschutzgebiet unterstellt.

Peter Becker ist einer der versiertesten Vogelkundler im OVH.

Peter Becker ist einer der versiertesten Vogelkundler im OVH.

Wer heute durch die Gronauer Masch spaziert, erlebt ein Vogelschutzgebiet, das mit seinem Artenreichtum seinesgleichen sucht: Mehr als 200 verschiedene Brutvögel, Nahrungsgäste und Durchzügler, so die Differenzierung der „Avifaunisten“ genannten Experten, haben das inzwischen 350 Hektar große Naturschutzgebiet „Gronauer Masch und Leineaue unter dem Rammelsberg“ im Laufe der Jahre angesteuert, sagt Vogelkundler Peter Becker. Selbstredend, dass darunter jede Menge seltene Arten sind. 1981 konnte der OVH für stattliche 100 000 Mark das erste Flurstück erwerben und damit die wunderbare Wandlung dieses Lebensraums vorantreiben. Was zunächst mit einer Sammelaktion von illegal abgekipptem Müll begann. Noch in den 1970-ern ließ die Gronauer Zuckerfabrik Klärteiche anlegen – die heute Rastplatz für Watvögel und Enten geworden sind.

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Die eine unberührte Urwaldlandschaft sieht dieser Teich ihn der Gronauer Masch aus. Dich der Tempel ist von Menschen geschaffen worden.

Die Tümpel, Teiche und Feuchtwiesen werden vorrangig von Niederschlägen gespeist – und vom Eddingshäuser Bach, der kanalisiert zum Petergraben wird. Reste der Tonschicht verhindern, dass die Tümpel leerlaufen. Doch dann kam das verhängnisvolle Jahr 1983, als ein Bauer für eine Drainage die Tonschicht durchstieß, um seine Ackerfläche zu entwässern: Die Masch lief leer, nicht nur 30 000 Kaulquappen der Knoblauchkröte verendeten qualvoll. „Das war illegal“, schimpft Becker noch heute. Auf seine Anzeige beim Kreis habe er bis heute keine Antwort erhalten.

Sicherlich sind feuchte Weiden und Äcker nicht der Traum eines jeden Landwirts. Doch mit steigendem Umweltbewusstsein gibt es längst ein gedeihliches Miteinander zwischen Naturschützern, Bauern, Realverbänden, Jägern, Naturschutzbehörden, Gemeinden und Kreis. Selbst eine neue Stauschwelle in der Leine, die den Grundwasserspiegel auf einem bestimmten Niveau halten soll, ist längst kein Streitthema mehr: 75 Meter über Normalnull ist der Kompromiss, den alle mittragen.

Keine Angst vor großen Tieren: Landwirt Georg Meyer hält Welsh Black, eine Rinderrasse aus Wales, die als ruhig, umgänglich und robust gilt.

Keine Angst vor grossen Tieren_ Landwirt Georg Meyer hält Welsh Black. Eine Rinderrasse aus Wales. Die als ruhig, umgänglich und robust gilt. Fotos Werner Kaiser

Der Bethelner Landwirt Georg Meyer trägt auf seine Weise zum Gelingen bei. Den seit 1909 bestehenden Familienbetrieb hat er 2015 von Vater Helmut übernommen. Heute hält er in der Masch Rinder der seltenen Rasse Welsh Black. „Es ist ganz wichtig, dass diese Flächen hier offen bleiben“, sagt Martina Stübe von der Unteren Naturschutzbehörde. Was die Rinder übrig lassen, futtern die Schafe des Bethelner HI-Land-Bauern René Bergmann. Zuchtbulle Saylor, zu erkennen am Ring in der Nase, sorgt derweil mit reichlich Nachwuchs für neue springlebendige Wiederkäuer. Mehr als eine Tonne Gewicht bringt der Prachtkerl auf die Waage. Da ist man froh, dass ein Zaun die Herde vom Weg trennt. Doch sobald Meyer mit süßen Rübenschnitzeln naht, trotten die Rinder mit dem tiefschwarzen Fell ganz nah heran.

Ihr Anblick erinnert an die schwarzen Stiere der Camargue, fehlen nur noch rosa Flamingos. Die gibt es hier zwar nicht, dafür aber eine unendliche Fülle anderer Arten: Grau-, Silber-, Fisch- und Seidenreiher tauchen auf, Weiß- und Schwarzstörche, Löffler, Brachvögel, Säbelschnäbler, Zwerg- und Haubentaucher, Sing- und Höckerschwäne, Pfeif-, Krick- und Schnatterenten, Wiedehopfe, Pirole und Wendehälse, Ufer-, Rauch- und Mehlschwalben, Rot-, Blau- und Braunkehlchen, dazu diverse Arten aus der Familie der Pieper, Spechte, Meisen, Drosseln, Eulen, auch Tiere mit so putzigen Namen wie Odinshühnchen, Feldschwirl, Wachtelkönig, Steinschmätzer, Gelbspötter. Den besten Blick hat man von einem hölzernen Beobachtungsturm, den der Elzer Ornithologe Dr. Michael Pipho gespendet hat. Die Aussicht auf den großen Teich, der malerisch von hohen Pappeln und Erlen umrahmt wird, ist phänomenal, mit Glück kann man sogar See- und Fischadler beim Jagen beobachten. Fast fühlt man sich wie auf Fotosafari in Afrika. Die trockenen Sommer haben den Wasserstand aber arg schwinden lassen.

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Schon anzusehen, das Indische Springkraut, das 1839 aus Kashmir nach England als Zierkraut importiert wurde, und seitdem sich intensiv ausbreitet.

Botaniker können sich derweil an den Rohr- und Igelkolben, an Wasserminze, der seltenen Schwanenblume, Froschlöffel und auch den weißen Blüten des Froschbisses erfreuen, der an kleine Seerosen erinnert. Darüber jagen pfeilschnell Libellen. Attraktiv auch das übermannshohe Indische Springkraut mit seinen rosa Blüten. Allerdings wuchert der Neophyt aus dem Himalaya so üppig, dass unter seinen Blättern fast nichts anderes mehr wächst. Seine invasive Ausbreitung gilt als kritisch.

Vorbei an Obstbäumen geht es zur Leine, wo Eisvogel und Wasseramseln zu Hause sind, oder zum Uthberg mit seinem Trockenrasen auf Keuper-Gesteinen, von dem man einen weiten Blick über den Leine-Graben bis zum Thüster Berg im Westen genießen kann. Dass die Leine, die hier streng gen Norden nach Burgstemmen fließt, noch so ursprünglich wirkt, liegt auch daran, dass es über fünf Kilometer keine Brücke, keinen Steg – und somit auch keine Störung gibt. Am Fuß des Uthbergs aber hat der OVH vor 20 Jahren dann doch die Bagger anrücken lassen, um eine Kette von Tümpeln ausheben zu lassen. Die Idee des verstorbenen OVH-Mitglieds Heinz Ritter traf es auf den Punkt: Heute erklingt in lauen Frühlingsnächten ein so opulentes Laubfroschkonzert, das manches Vogelkonzert in den Schatten stellt.

Zur HAZ Serie: Man muss nicht in die Ferne schweifen, um Natur von ihrer schönsten Seite zu erleben. In Zusammenarbeit mit dem Ornithologischen Verein zu Hildesheim (OVH) und dem Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) stellt die HAZ im Laufe des Sommers Schutzgebiete und Menschen vor, die sich mit viel Engagement um deren Erhalt kümmern. Zugleich gibt es Anregungen für Spaziergänge im Gebiet. Aber schön auf den Wegen bleiben und Hunde an die Leine nehmen.

© Hildesheimer Allgemeine Zeitung 29. 08.2020