Ornithologischer Verein schreibt Brandbrief an Oberbürgermeister und kritisiert öffentliche Grünpflege, Schottergärten und Verlust von Naturraum
In einem offenen Brief an Oberbürgermeister Ingo Meyer kritisiert Alistair Hill als Vorsitzender des Ornithologischen Vereins zu Hildesheim (OVH) das rigorose Abholzen und Zurückschneiden auf städtischen Grünflächen, den Verlust von immer mehr Schrebergärten, die Bauprojekten weichen müssen, und die Umgestaltung einst grüner Hausgärten in „lebensfeindliche Steinwüsten“.„Wir beobachten mit Sorge, dass diese Habitate reihenweise ohne jeglichen Ersatz vernichtet werden.“ Wie eng die Verzahnung der Arten in einzelnen Lebensräumen ist, skizziert Hill am Beispiel der Nachtigall, deren Bestand die Ornithologen seit mehr als 75 Jahren erfassen. Der Vogel gilt als „Leitart“ für alle andere Bewohner von Hecken und Gebüschen. Geht es der Nachtigall gut (oder schlecht), kann das auf andere Vogelarten übertragen werden, die den selben Lebensraum mit ihnen teilen. Denn wie die Nachtigall sind auch Amsel, Buchfink, Dorngrasmücke, Gelbspötter, Heckenbraunelle, Rotkehlchen und Klappergrasmücke Bodenbrüter, die für ihr Nest den Schutz dichten Gestrüpps brauchen.
Damit nicht genug: Sie alle benötigen als Futter Insekten, die in den Hecken leben. Auf den Schutz, den Ast- und Blattwerk bieten, sind aber auch kleine Säugetiere wie die äußerst nützlichen Spitzmäuse und Igel angewiesen. Die Kette ökologischer Zusammenhänge ließe sich endlos fortsetzen. Fakt ist: Greift der Mensch rigoros ein, fällt das gesamte System auseinander.
„Empörte Bürger berichten uns vom Abholzen und Beseitigungen von Bäumen, Gebüschen und Hecken im Zuge städtischer Pflegeeinsätze. In den letzten Wochen wurde am Sportplatz in Himmelsthür ein massiver Rückschnitt eines Gebüschs durchgeführt. In diesem Gebüsch brütete seit Jahren zuverlässig eine Nachtigall. In diesem Jahr wird sie dort mit Sicherheit nicht anzutreffen sein“, klagt Hill an.
Und nicht nur in Himmelsthür ist ein Schaden entstanden, den die Natur – wenn überhaupt – erst nach Jahren wieder reparieren kann. Zum Entsetzen der Naturschützer wurde der Schilfstreifen am Hohnsensee niedergemäht. „Wir sind … sehr besorgt, dass die Pläne eher in Richtung einer sauber angelegten Grünanlage des 19. Jahrhunderts laufen und Hecken und Gehölz als Lebensraum für Tiere und Insekten keine große Beachtung finden werden“, schreibt Hill mit Blick auf Hohnsensee und Wallanlagen.
Es gebe aber auch positive Ansätze: Vielerorts seien Blühstreifen angelegt worden, auf dem Nordfriedhof entwickele sich eine Zusammenarbeit mit dem Grünflächenamt, Anwohnern und dem OVH. Positiv ist auch das Projekt „Libellenflugplatz Steuerwald“: Das Gebiet um den Altarm der Innerste bei Steuerwald soll im Sinne der Artenvielfalt aufgebessert werden.
Der OVH sei nicht der Ansicht, dass Pflegemaßnahmen an Grünflächen nicht stattfinden sollten. „In unserer intensiv genutzten Landschaft ist ein Management der Natur und Landschaft unumgänglich. Hecken und Büsche müssen ab und zu geschnitten werden. Aber bitte mit Augenmaß!“ Rückschnitte oder das Auf-den-Stock-Setzen der Büsche dürfte nur abschnittsweise erfolgen. Pro Jahr sollte maximal ein Drittel der Hecke gestutzt werden.
„Wenn die Stadt als Grüne Stadt anerkannt werden will, muss der Artenvielfalt eine wesentlich höhere Priorität eingeräumt werden. Wir fordern eine Durchführung der Pflegemaßnahmen an den Grünflächen unter dem Primat der Ökologie und nicht der Kostenoptimierung.“
Was der Stadt mit dem Brandbrief von Alistair Hill ins Haus geflattert ist, sollte dort die Alarmglocken schrillen lassen. Der OVH ist wirklich nicht dafür bekannt, mit propagandistischen Aktionen ideologische Ziele durchzusetzen. Vielmehr kümmern sich die Mitglieder um eine Fülle von Naturschutzprojekten; ehrenamtlich, engagiert, ohne großes Aufhebens davon zu machen. Wenn dieser Verein sich nun öffentlich zu Wort meldet und beim Oberbürgermeister den Umgang der Stadt mit öffentlichem Grün anprangert, sollte das ein Weckruf sein. Gerade hat das Bundesverfassungsgericht in seinem wegweisenden Urteil den Klimaschutz gestärkt und die Verantwortung der heute Handelnden für nachfolgende Generationen betont. Naturschutz und Klimaschutz aber sind untrennbar miteinander verbunden: Auch beim Naturschutz geht es um die Pflege und den Erhalt des kollektiven Erbes für die Generationen nach uns. Wenn Lebensräume – seien sie noch so klein und scheinbar alltäglich – aus Gedankenlosigkeit, finanziellen Gründen oder Dummheit vernichtet werden, setzt der Eingriff eine Kettenreaktion in Gang. Der dramatische Rückgang der Insekten ist nur ein Warnzeichen, dass sich dringend etwas ändern muss. Der Brief sollte die Verantwortlichen aufrütteln. Viel Zeit bleibt nicht mehr.
© Hildesheimer Allgemeine Zeitung 14. Mai 2021
Hier finden Sie das Schreiben des OVH:
Offener Brief an die Stadt Hidesheim Oberbürgermeister Dr. Meyer Pflege von Büschen und Hecken