Aus der HAZ vom 04.01.2016
Naturschutz warnt vor Schuss ins Blaue
Brief ans Ministerium: Ornithologischer Verein befürchtet Verwechslung mit stark bedrohten Gänsearten
Von Marita Zimmerhof
KREIS HILDESHEIM. Schon lange sind Landwirte vor allem im nördlichen Landkreis auf Gänse nicht gut zu sprechen. Wenn sich die Vögel zu Hunderten über die frisch gekeimten Getreide- und Rübensaaten hermachen, bleibt oftmals kein Hähnchen übrig. Sie fordern deshalb vom Landwirtschaftsministerium in Hannover eine Verlängerung der Gänsejagd bis in die Brutzeit hinein. Nun aber warnt der Ornithologische Verein (OVH) davor, die Jagdzeiten weiter auszudehnen. Dieser Schuss könne ganz schnell nach hinten losgehen, fürchtet der OVH-Vorsitzende Alistair Hill und hat dem Ministerium eine Stellungnahme mit seinen Bedenken zugesandt.
Graugans, Nilgans, Kanadagans? Von wogen. Nichts dergleichen. Bei diesen Gänsen in der Nähe von Giesen handelt es sich um geschützte Saatgänse.
Im Winter, so Hill, kämen jede Menge andere, zum Teil streng geschützte Arten aus den Weiten Skandinaviens und Russlands in unsere Breiten: Sie von den ungeliebten Grau- und Nilgänsen zu unterscheiden fällt manchmal selbst dem geübten Auge schwer. Und wenn der Schwarm erst aufgestiegen ist, ist es nahezu unmöglich, die oftmals nur winzigen Unterscheidungsmerkmale zu erkennen. Wird dann ziellos in den Schwarm hineingeschossen, wäre die Gefahr immens, dabei ausgerechnet streng geschützte Arten zu erlegen.
Dabei ist das Problem der Gänseinvasion menschengemacht: Schon vor Jahrhunderten wurden Nil- und Kanadagänse in Mittel- und Westeuropa als Jagd-und Ziergeflügel ausgesetzt, die Graugans wurde sogar erst Ende der 1960er Jahre im Raum Braunschweig und am Dümmer angesiedelt. Mit durchschlagendem Erfolg. Auch begünstigt durch müdere Winter, hat sich das Federvieh so erfolgreich vermehrt, dass selbst die Naturschützer des OVH die Entwicklung inzwischen mit Sorge sehen.
Seit mehr als 30 Jahren kartieren sie die Vogelbestände. Ihre Zählungen zeigen, dass mehr als 1000 Graugänse,dazu mehrere hundert Nilgänse und vereinzelt auch Kanadagänse ganzjährig im Leinetal zwischen Alfeld, Gronau und Hannover umherstreuen. Die großen Bestände zeigen ein nicht untypisches Problem bei Neozoen, also Tieren, die in der heimischen Fauna fremd sind, nach 1492 ausgesetzt wurden und in der neuen Umwelt äußerst erfolgreich überlebt haben. Mangels natürlicher Feinde können sich solche Arten explosionsartig vermehren. Die Waschbären gehören dazu, Damhirsche, Mufflons und Marderhunde, aber auch Jagd- und Königsfasane, Nandus, Alexandersittiche oder Kuba-und Chile-Flamingos.
Bei Naturschützem sind solche Arten alles andere als beliebt, denn sie verdrängen oftmals heimische Arten: So brüten Nilgänse in Bäumen und besetzen dabei die Horste von Rotmilanen, Bussarden, Graureihern, Weiß- und Schwarzstörchen. Der Omithologische Verein unterstütze deshalb grundsätzlich Maßnahmen zur Kontrolle und Regulierung der hiesigen Gänsepopulationen und besonders der Nilgans, betont Hill, zumal sich bei fortschreitendem Kiesabbau deren Lebensbedingungen weiter verbessern dürften. „Allerdings ist der Erfolg der Jagd eher zweifelhaft, wie sich in den Niederlanden zeigt.
‘Ab September und während des Winterhalbjahrs bestehe die große Gefahr, dass irrtümlich andere, zum Teil streng geschützte nordische Gänsearten abgeschossen werden, die lediglich als Zugvögel bei uns rasten. „Die sichere Bestimmung dieser Arten ist auch für erfahrene Jäger schwierig“. Im vergangenen Herbst etwa zog bereits Ende September eine erste Welle nord- und osteuropäischer Saat- und Blässgänse durch unsere Region. Darunter, so Hill, war auch die weltweit bedrohte arktische Taiga- oder Waldsaatgans. Man muss schon sehr genau hinschauen, um die Unterarten von Gänsen aus der waldreichen Taiga und der baumlosen Tundra auseinander halten zu können. Eine andere Rarität, die sich unter die Schwärme mischt, ist die Zwerggans, die eng mit den Blässgänsen verwandt ist. Und auch die sehr seltene Kurzschnabelgans haben die Experten schon beobachtet – sie wird von Laien oft mit der Saatgans verwechselt.
Je nach Witterung könnten sich noch bis Anfang März größere Gänseschwärme als Wintergäste bei uns aufhalten. Für sie ist Norddeutschland praktisch die Serengeti unserer Winterzieher. Als Zugvögel nutzen sie das Nahrungsangebot der frischen Wintersaaten auf Acker-und Grünland, um die notwendigen Energiereserven für den kräftezehrenden Weiterflug aufzutanken. Die durchziehenden Gänseschwärme ließen indes keinerlei Rückschlüsse auf die hiesige Brutpopulation zu, betont Hill. Eine Intensivierung der Gänsejagd aber könne die Zugvögelbestände aus Tundra und Taiga nachhaltig gefährden würden.
Der OVH plädiert deshalb dafür, die Jagd auf Grau-, Nil- und Kanadagänse für Juli und August – unmittelbar nach der Brutzeit – freizugeben. .Am besten, wenn die Vögel mausern und dadurch in ihrer Mobilität stark behindert sind.
© Hildesheimer Allgemeine Zeitung Fotos: © ovh/Hill