Nach dem Hendricks-Zitat: Landwirte und Naturschutzverbände streiten über die Ursachen und das Ausmaß des Insektensterbens
Aus der HAZ vom 22. Juli 2017
Von Marita Zimmerhof
Hildesheim. „Das ist reiner Wahlkampf”, wettert Wolf gang Rühm-kort und fiebert bereits der Bundestagswahl am 24. September entgegen. „Inzwischen ist es ja zum Volkssport geworden, alles auf die Landwirte abzuladen.” Was den Vorsitzenden des Kreisbauernverbandes so in Rage bringt, ist eine kürzlich von Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) veröffentliche Zahl, die seither heftig die Gemüter bewegt: 80 Prozent!
Um bis zu 80 Prozent soll sich in Teilen des Landes der Bestand von Insekten seit dem Jahr 1982 verringert haben. Und einer der Hauptschuldigen sollen die Landwirte sein. „Die heutige Landwirtschaft macht den Insekten das Überleben schwer: Es werden große Mengen von Pestiziden eingesetzt, und es gibt zu wenig Blühstreiten und Hecken” , wird Hendricks zitiert.Rühmkorf bemängelt, dass das Ministerium mit dieser Aussage lediglich eine regionale Erhebung Krefelder Insektenforscher verallgemeinere. Stabile Zahlen für das Bundesgebiet gebe es nicht. Die hat zwar auch Guido Madsack nicht. Der Naturkundler, der die Naturschutzgebiete Osterberg, Lange Dreisch und Gallberg wie kaum ein Zweiter kennt, beschäftigt sich aber seit Jahren mit Tagfaltern und Widderchen in der Region.
Mit Unterstützung der örtlichen Naturschutzverbände OVH, Nabu und Bund stellte Madsack aktuelle Fundlisten zusammen. Mehr noch: Er verglich die Daten mit den Angaben aus der „Schmetterlingsfauna von Hildesheim” , die vor mehr als 100 Jahren von den Insektenkundlern Grote (1897) und Bode (1907) veröffentlicht worden sind und heute im Roe-mer-Museum aufbewahrt werden.
„Das Ergebnis ist eindeutig”, versichert Madsack. „Im Laufe der letzten 100 Jahre kam es zu einer erheblichen Verarmung der Tagfalterfauna in Hildesheim.” Früher muss es laut der Beschreibungen regelrechte „Schmetterlingsstürme” gegeben haben, wenn man eine Wiese durchstreifte und die Falter aufscheuchte. Viele Arten werden als „überall sehr häufig” oder „ziemlich überall verbreitet” eingestuft.Mit etwas Glück dürften Grote und Bode damals noch 99 Tagfalter- und neun Widderchenarten vor der Nase herumgeflattert sein.
Zwischen 2000 und 2012 aber zählten Naturschützer in der Region nur noch 63 Tagfalter- und sieben Widderchenarten. Von zweien wurde überhaupt nur ein einziges Individuum gesichtet. Von den 117 Tagfalterarten, die in Niedersachsen nachgewiesen sind, stehen inzwischen 82 auf der Roten Liste der bedrohten Arten,13 Arten gelten als ausgestorben oder verschollen.
Deutschland weit sieht es nicht besser aus: Von 190 heimischen Tagfalterarten stehen 146 auf der Roten Liste, sechs Arten sind ausgestorben oder verschollen.„Die anzunehmenden Rückgangszahlen fallen eventuell noch höher aus”, befürchtet Madsack, denn manche der zwischen 2000 und 2012 noch beobachteten Arten sind seither nicht mehr wiedergesehen worden. Gibt es in Hildesheim noch Hornklee-Widderchen, Ginster- und Rotklee-Bläulinge, Veilchen-Perlmutterfalter und Große Eisvögel? Oder sind diese Falter für immer verschwunden?
Nicht nur die Vertreter der Naturschutzverbände sehen inzwischen schwarz. „Es gibt zahlreiche Studien, die belegen, dass dramatische Rückgänge zu verzeichnen sind. Das ist tatsächlich eine großflächige Angelegenheit”, sagt Karin Stein-Bachinger vom Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung (ZALF) in Müncheberg. Die Einrichtung hat die Mission, Wirkungszusammenhänge in Agrarlandschaften wissenschaftlich zu erklären und die Wissensgrundlage für eine nachhaltige Nutzung von Agrarlandschaften zu erforschen. Die Agrarwissenschaftlerin ist überzeugt, dass „ die Landnutzung einer der Hauptverursacher” ist.
In der intensiven Landwirtschaft gebe es noch immer einen hohen Einsatz von Pflanzenschutzmitteln, die durch Abdriften selbst in Naturschutzgebieten zu einem Artensterben führten. Kritisch bewertet Stein-Bachinger auch Beizmittel auf Basis von Neonicotinoiden, einem hochwirksamen Nervengift, das Saatgut vor Schädlingen und Vogelfraß schützen soll. Allerdings dürfe man den Landwirten nicht alle Schuld in die Schuhe schieben: „Die Agrarpolitik stellt die falschen Weichen.” Blühstreifen müssten besser gefördert werden, die totale Ausrottung einzelner Pflanzen müsse verhindert werden.
Dabei stellen die Schmetterlinge nur einen Teil der Klasse bedrohter Insekten. Auch Bienen, Wespen und Hummeln, Käfer, Heuschrecken und Wanzen – um nur einige zu nennen – sind heute gefährdet. „Wir müssen helfen”, appelliert Manuela Lobe, die beim Nabu die Arbeitsgruppe Entomologie (Insektenkunde) leitet. „Sonst geht es uns eines Tages wie den Japanern, die ihre Kirschbäume schon Blüte für Blüte von Hand bestäuben müssen, weil sie keine Bienen mehr haben.”
Auch sie kritisiert, dass es kaum noch Ackerrandstreifen gebe, auf denen Wildkräuter ungestört wachsen können. Aber auch das Wetter spielt in ihren Augen eine Rolle: Der Frost, der im Frühjahr die Obstblüte erfrieren ließ, sei „eine Katastrophe ” für die Insektenwelt gewesen. Zum Artensterben trügen aber auch Flussbegradigungen bei. „Viele Insekten sind Spezialisten, die an ganz bestimmte Lebensräume gebunden sind.” Verschwinden die Biotope, verschwinden auch die zugehörigen Insekten. Und in der Folge Tiere, die von ihnen leben: Vögel, Kleinsäuger, Reptilien, Amphibien.
„Manche Leute werden das als unordentlich empfinden”, räumt Maren Burgdorf, die Leiterin der Botanik-AG im Ornithologischen Verein (OVH), ein. Doch gerade im Sommer, wenn viele Blütenpflanzen schon Früchte ansetzen, sei es für Insekten schwierig, noch ausreichend Futterpflanzen zu finden. „Der Sommer ist für sie eine ganz gefährliche Zeit.” Majoran und Thymian in den Beeten oder Klee im Rasen seien für viele dieser Tiere dann die Rettung. Zum Insektenschutz gehört für sie aber auch, Straßenränder weniger oft zu mähen. „An einigen Stellen passiert das schon. Dort sind die Flächen auch gleich viel artenreicher.”
In unserer Region gibt es aber nur sechs Schmetterlingsarten, die „ubiquist” sind, also unterschiedliche Lebensräume besiedeln können, sagt Madsack. Nur der Kleine und der Große Kohlweißling, das Tagpfauenauge, der Grünadrige Weißling, der Admiral und der Kleine Fuchs sind deshalb auch genau die Schmetterlinge, die man noch häufiger zu Gesicht bekommt.
Viele Insekten sind dagegen extreme Nahrungsspezialisten: Sie brauchen ganz bestimmte Pflanzen, um die nächste Generation hervorbringen zu können. In Naturschutzgebieten sollen zwar Lebensräume bewahrt werden, die in der Kulturlandschaft keinen Bestand hätten. Doch gerade in Deutschland seien solche Fläche oftmals sehr klein parzelliert, meint Madsack. Meistens messen sie nur zwischen zehn und 50 Hektar. Mit 250 Hektar ist der Osterberg da schon eine rühmliche Ausnahme. Der Gallberg mit seinem artenreichen Magerrasen kommt auf gut 50 Hektar.
Winzige Naturschutzgebiete lassen sich auch deshalb nur schwer in ihrer Ursprünglichkeit erhalten, weil von den Rändern über das Wasser und die Luft Gift-und Nährstoffe eingetragen werden, die aus Düngung, Autoabgasen oder Pflanzenspritzaktionen stammen. Selbst auf unbehandelten Flächen sei der Stickstoffeintrag über die Luft mit 20 bis 40 Kilogramm pro Hektar und Jahr heute so hoch wie auf gedüngten, landwirtschaftlich genutzten Flächen im Mittelalter, sagt Madsack.
Für Rühmkorf sind die Klagen über das Artensterben in der Insektenwelt dennoch nur „ ein Irrläufer”, den die Grünen in die Welt gesetzt hätten. „ Man muss ja nur mal einen Mähdrescherfahrer fragen, der nachts Gerste gedroschen hat, wie viele Insekten sich im Scheinwerferlicht tummeln.” Allerdings räumt auch er ein, dass auf die sechsbeinigen Mitbewohner heute viele Gefahren lauern: „Die Welt wird immer hygienischer: Es gibt keine Misthaufen mehr, Abfälle verschwinden in geschlossenen Biotonnen, Sümpfe und Flussauen werden trockengelegt. ” Durch Lichtverschmutzung verendeten viele Insekten an künstlichen Lichtquellen. Und nicht zuletzt unterschieden viele zwischen „guten” und „bösen” Insekten, die sie tolerierten – oder auch nicht. „ Honigbienen finden alle gut, Stechmücken will keiner.”
Am Wahrheitsgehalt des Hendricks-Zitats über die Windschutzscheiben der Autos, die früher nach einer längeren Fahrt völlig verschmiert, heute hingegen blitzsauber seien, hat Rühmkorf hingegen ebenfalls Zweifel: „Das liegt einfach daran, dass die Aerodynamik der Autos besser geworden ist und die Insekten gar nicht mehr aufprallen.”
Festmahl für Falter: Die Auswahl macht’s Wer Insekten helfen will, kann in seinem Garten, auf der Terrasse oder auf dem Balkon Futterpflanzen anbauen. „Im Internet gibt es Blumensamenmischungen, die passend für den jeweiligen Boden gemischt sind und deren Blumen zeitversetzt blühen, damit die Insekten möglichst lange davon profitieren“, sagt Nabu-Expertin Manuela Lobe. Anstatt Grundstücksgrenzen mit Steinmauern zu bebauen, rät sie zu Gehölzen.
Für die Beetbepflanzung sollte man heimischen Arten den Vorzug geben und auch daran denken, dass gefüllte Blüten für die Insektenwelt kaum von Nutzen sind. Englischer Rasen hat ebenfalls nur einen geringen ökologischen Wert. Lobe und Maren Burgdorf vom OVH haben eine Pflanzenliste mit Arten zusammengestellt, die für Insekten wie Wild-und Honigbienen, Schwebfliegen, Schmetterlinge und Hummeln interessant sind: Ökologisch wertvoll sind alle Rosengewächse wie Schlehe, Traubenkirsche, Heckenkirsche, Johannisbeere, Himbeere, Brombeere, Weißdorn, aber auch Liguster, Faulbaum, Schneeball, Efeu, wilder Wein. Wichtige Futterpflanzen sind Wilde Möhre, Brennnessel, Disteln, Veilchen, Bunte Kronwicken, Heidekraut, Luzerne-Arten, Klee-Arten, Storchschnabelgewächse, aber auch Thymian, Katzenminze, Dost und diverse Gräser. ha
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