Eine Reportage von Marita Zimmerhof
Seit Jahren unterstützen Hildesheimer die Erdbebenopfer in den Abruzzen.

Auch dank ihrer Hilfe ist in Camarda ein neues Gemeinschaftshaus entstanden, das den Zusammenhalt dieses geschundenen Dorfes festigt.

Tomaten, Chili, durchwachsener Speck, eine gehackte Zwiebel, dazu ein Schuss gutes Olivenöl: In unzähligen italienischen Restaurants überall auf der Welt stehen Spaghetti all’amatriciana auf der Speisekarte. In Amatrice, dem mittelitalienischen Bergdorf, das diesem Nudelgericht seinen Namen gegeben hat, steht keine Hausfrau mehr hinter ihrem Herd. Das schwere Erdbeben vom 24. August 2016 ließ die Mauern der uralten Steinhäuser in ihren Grundfesten erzittern, zwei schwere Nachbeben im Oktober und Januar vernichteten, was den Erdstößen bis dahin noch Stand gehalten hatte.Tage nach der Katastrophe drängten sich vor den haushohen Schuttbergen Kamerateams aus aller Welt, doch längst ist der Medienzirkus weitergezogen. Das alte Amatrice, einst als eines der schönsten Dörfer Italiens gerühmt, steht nicht mehr -und ist den Reportern auch längst keine Zeile mehr wert. Dabei hat die unkalkulierbare Urgewalt aus der Tiefe nicht nur Amatrice getroffen: Überall in den Abruzzen haben die malerischen Bergdörfer rund um das annähernd 3000 Meter hohe Gran-Sasso-Massiv Schaden genommen.

Gleich, in welches Dorf man schaut: Fast keines wurde verschont. In zahllosen Fassaden ziehen sich breite Risse über alle Etagen durch das Bruchstein-Mauerwerk der uralten Häuser. Viele Wände sind mit Kanthölzern abgestützt oder werden von Spanngurten zusammengehalten, die wie ein überdimensionales Gummiband um das gesamte Haus gewickelt worden sind. Ein Gewirr aus Hunderten miteinander verschraubter Metallstangen füllt ganze Gassen aus – während die Menschen wie in Tunneln unter den bröckligen Fassaden hindurcheilen.

Nach jedem stärkeren Erdbeben sagen die Offiziellen schnelle und unbürokratische Hilfe zu. Viele Abruzzeser – vor allem die in den ländlich strukturierten Bergregionen – können darüber nur lächeln. Das letzte große Beben vor dem AmatriceBeben, das 2009 in der Provinzhauptstadt L’ Aquila Millionenwerte zerstörte, forderte mehr als 300 Menschenleben, mindestens 15000 Gebäude wurden beschädigt. Seither drehen sich im azurblauen Himmel über L’ Aquila zwar Dutzende von Kränen, doch der Wiederaufbau geht nur schleppend voran. Zu groß waren die Zerstörungen. Und noch immer sind ganze Straßenzüge in Stützkorsetts gezwängt und viele Häuser unbewohnbar.

Sehnsüchtig blickt Donato Scipioni hinauf zum Berg. Der 47-Jährige mit dem dunklen Drei-Tage-Bart und den wachen, brauen Augen hat in Camarda seine Kindheit verbracht, später einen kleinen Handwerksbetrieb für Elektrik und Hydraulik aufgemacht. Aus der Ferne betrachtet sieht sein Heimatdorf beinahe unbeschadet aus. Doch die Erdstöße 2009 haben auch hier schwere Schäden angerichtet. Viele Häuser können nicht mehr betreten werden: Einsturzgefahr. Zu anderen Häusern, die statisch noch halbwegs stabil sind, wäre schon der Fußweg lebensgefährlich. Unbürokratische Hilfe? Scipioni huscht ein ratloses Lächeln über das Gesicht.

Seit acht Jahren leben die Dorfbewohner nun schon in damals eiligst errichteten Schlichtbauten auf der gegenüberliegenden Seite des Tals. Italiens damaliger Ministerpräsident Silvio Berlusconi hatte die Lage der obdachlos gewordenen Erdbebenopfer in den Abruzzen seinerzeit mit einem Campingurlaub verglichen. „Natürlich” sei ihre Unterbringung „absolut provisorisch, aber man muss es eben nehmen wie ein Campingwochenende” . In den Ohren der Betroffenen dürften die Worte des Ex-Premiers wie blanker Hohn klingen.

„Von den versprochenen staatlichen Hilfen haben wir bislang nichts gesehen”, versichert ein Dorfbewohner. Die Umstehenden nicken. Das Geld sei wohl nach L’ Aquila geflossen, glauben die Menschen hier. Wäre es da nicht das Einfachste, die verbliebenen Habseligkeiten zu packen und einfach wegzugehen? So etwas kann wohl nur ein Tourist fragen, scheint Scipionis Blick zu sagen. „Nein”, sagt der Mann entschlossen. „Wir wollen wieder zurück.” Auch nach Jahren im Provisorium hält die Dorfgemeinschaft fest zusammen. Früher traf sie sich in der hübschen kleinen Dorfkirche. Doch der Fußweg hinauf zur anderen Seite des Tals ist für viele beschwerlich.

Am Grunde des Tals ist deshalb ein neues Dorfgemeinschaftshaus gebaut worden, das für Camarda zum Kristallisationspunkt geworden ist. Es steht auf bis zu 13 Meter tief in den Boden gerammten Pfeilern, die den Baugrund stabilisieren. Die Fertigstellung hat Jahre gedauert, seit einigen Monaten ist das Multifunktionszentrum fertig: Es ist Kirche und Kino, Ratssaal und Festhalle in einem. Die kühn geschwungene Dachkonstruktion ruht auf flexiblen Leimholzbindem. Aus einem hoch angesetzten Fensterband an der Rückwand des Saals fällt der Blick auf das alte Camarda oben am Berg. Die feinen Haarrisse unter der Glasfront stammen von den jüngsten Erdstößen in Amatrice, seien aber kaum mehr als eine kosmetische Beeinträchtigung, versichert Scipioni, der seit 2013 auch Präsident des Fördervereins, der „Associatione Insieme per Camarda”, ist.

In vielen Dörfern müssen Fassaden abgestützt werden, um sie vor dem Einsturz zu bewahren.
Überall in den Abruzzen wie hier in Capestrano haben Erdbeben schwere Schäden hinterlassen. Doch längst haben die heimatverbundenen Bewohner mit der Sanierung begonnen.

 

Goffredo Palmerini und Donato Scipioni freuen sich über die Hilfe von Enzo lacovozzi und Bernd Galland.

An einer Wand hängt eine Gedenktafel, auf der den Unterstützen! des Projekts gedankt wird. Sie kommen aus der Schweiz, aus Belgien, aus anderen Teilen Italiens und – aus Hildesheim. Ausdrücklich dankt die „Associatione” dem Ornithologischen Verein zu Hildesheim (OVH), der Deutsch-Italienischen Gesellschaft Hildesheim und ihrem in Hildesheim lebenden Landsmann Cavaliere Enzo lacovozzi, der die Hilfsaktionen initiiert hat. Dass auf der Tafel Hildesheim zu HiLdesheim geworden ist, ist ein amüsanter kleiner Lapsus des Graveurs.

Was so rätselhaft klingt, hat eine ganze einfache Erklärung: Seit Jahren reist eine Gruppe des OVH regelmäßig in die Abruzzen, um in Exkursionen die außergewöhnlich reiche Flora und Fauna zu erkunden. Der langjährige ehemalige OVH-Vorsitzende Bernd Galland und seine Frau Maria erweisen sich dabei als Botaniker mit profunder Sachkenntnis, lacovozzi sorgt derweil für Quartier und Verpflegung. Nach dem Erdbeben in L’ Aquila war es ihm – und vielen anderen Hildesheimern – ein Bedürfnis, den Abruzzesem zu helfen. Mehrfach richtete das Restaurant „La Gondola” für die Mitglieder der Deutsch-Italienischen Gesellschaft Wohltätigkeitsessen aus, deren Überschüsse Camarda zugutekommen. Doch warum gerade Camarda?

Auf Vermittlung Iacovozzis waren nach dem L’ Aquila-Beben italienische Spitzenköche nach Hildesheim gereist, um ein Galadiner zugunsten der Abruzzen zu kochen. Über diese Verbindung fiel das Augenmerk auf ebenjene Gemeinde. Statt das Geld nach dem Gießkannenprinzip zu verteilen, wählte lacovozzi das Bergdorf Camarda als Empfänger aus. Dort sind die Hildesheimer mit ihren regelmäßigen Besuchen den Einheimischen längst ans Herz gewachsen.

Örtliche Zeitungen berichten vom Besuch der Hildesheimer. Im Gemeinschaftshaus, in dem sich beim vorletzten Besuch noch Zementsäcke und Glasfaserwolle stapelten, sind kühle Getränke und köstliche Melonenspieße mit Landschinken als Willkommensgruß aufgebaut. Gastfreundschaft wird in den Abruzzen traditionell groß geschrieben. Schon bald werde auch der Wiederaufbau seines Dorfes beginnen, zeigt sich Scipioni zuversichtlich. Schon bald werden sich auch hier – wie über so vielen Bergdörfern in den Abruzzen – die Baukräne drehen, ist er sicher.

Das Land der tausend Kapellen, Kirchen und Einsiedeleien ist längst auch zum Land der tausend Kräne geworden. Ausgrabungen belegen, dass hier schon seit 700000 Jahren Menschen siedeln. Und sie werden es – allen Beschwernissen zum Trotz – auch in Zukunft tun.
In einer Nacht bekommen auch die Hildesheimer eine Ahnung davon, was es heißt, wenn die Erde bebt. Es ist kurz vor 2 Uhr, die meisten Menschen schlafen bereits. „Es war, als ob jemand an meinem Bett ruckelt”, beschreibt ein Hildesheimer, der von den Erschütterungen auf gewacht ist, den Moment. Aus Sicht der Einheimischen nicht mehr als ein harmloses Ruckeln. Kaum der Rede wert.
Am nächsten Morgen rücken Bauarbeiter mit Gerüsten aus, um die einzigartigen Renaissance-Fresken in der Hauptkirche von Atri zu sichern. Deren Wandmalereien gehören zu den herausragenden Werken dieser kunsthistorisch so reichen Region und sind eine beliebte Touristenattraktion. An diesem Tag aber bleibt die Kirche geschlossen. In ein paar Tagen werde sie wieder geöffnet sein, versichert der Bauleiter. Und sieht dabei tatsächlich ganz entspannt aus.

Hildesheim/Camarda. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Erde in Mittelitalien wieder bebt und die mittelalterlichen Dörfer erzittern lässt. Die jüngsten Erdbeben waren nur die letzten in einer endlosen Folge von Erdstößen, die den Stiefel seit Menschengedenken erschüttern. Der Grund: In Italien stößt der afrikanische Kontinent gegen Europa, wodurch sich hoch im Nor-den seit Jahrmillionen die Alpen auffalten.

Eines fernen Tages wird deshalb sogar das Mittelmeer Geschichte sein. Die Ursachen für die schweren Beben speziell in Mittelitalien sind aber noch komplizierter: Im Süden rutscht zugleich die Adriatische Platte unter den Apennin, die Landmasse des Stiefels verschwindet damit unter Sizilien in der Tiefe. Dort wird das abgetauchte Gestein aufgeschmolzen – und über Vulkane als Lava wieder an die Oberfläche befördert. Durch diesen unaufhaltsamen Prozess werden die Gesteine des 1500 Kilometer langen Gebirgszugs, der einmal durch den Stiefel läuft, auseinander gezogen. Dabei entstehen dann sogenannte Dehnungsbeben, zu denen die Geologen auch die aktuellen Erdstöße zählen.

Prellbock für Afrika
62 Erdbeben hat es allein in Europa in den vergangenen acht Tagen gegeben. Gezählt hat sie die Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik.

Aus der HAZ 22. Juli 2017. © Hildesheimer Allgemeine Zeitung