HAZ-Serie: Schätze vor der Haustür von Marita Zimmerhof
Wrisbergholzen – Für den flüchtigen Blick sieht das Getreidefeld aus wie jedes andere. Wer aber näher herantritt, entdeckt ein Blütenmeer in schönstem Himmelblau: Der Ackerrittersporn steht gerade üppig in Blüte. Und wer sich die Mühe macht, seinen Blick zwischen den Halmen über den Boden schweifen zu lassen, entdeckt noch jede Menge weitere botanische Schätze: leuchtend gelben Ackerhahnenfuß etwa, lilablühenden Kleinen Frauenspiegel, rosafarbene Ackerröte oder weiße Ackerlichtnelke.
Auf einer Anhöhe am Ostrand des Alfelder Berglands liegt zwischen Sibbesse und Alfeld die Wernershöhe, eine Ackerfläche, die seit Jahrhunderten landwirtschaftlich genutzt wird. Zu beneiden waren die Bauern hier oben auf der oftmals windumtobten Hochfläche allerdings nie. Wenn der heutige Landwirt Wilhelm Bertram über sein Feld geht, kann er bei jedem Schritt eintauchen in die Zeit vor 80 Millionen Jahren, als der Landstrich von einem warmen tropischen Meer überflutet war.
Ackern zwischen Seeigeln
Das hat sich zwar längst zurückgezogen, doch der einstige Meeresboden bildet nun einen sogenannten Kalkscherbenacker: Statt fetter, ertragreicher Lehmlössböden wie nur ein paar Kilometer weiter nördlich in der Hildesheimer Börde findet Bertram auf seinem Land zwischen der mageren, flachgründigen Bodenkrume kreidehelle Steine, so weit das Auge reicht. Und mit ein wenig Glück entdeckt er eingeschlossen darin sogar noch eine versteinerte Muschel oder einen Seeigel.
Und doch hütet der Bio-Landwirt aus Everode eine Kostbarkeit, die ihresgleichen sucht: Der Acker auf der Wernershöhe ist Deutschlands größtes Schutzgebiet für bedrohte Ackerwildkräuter – und eines der ältesten dazu. Auf der 25 Hektar großen Fläche wachsen zwei Dutzend Pflanzenarten, die auf der Roten Liste bedrohter Arten stehen. Der Einjährige Ziest etwa galt in Niedersachsen bereits als ausgestorben – bis Botaniker ihn hier oben wiederentdeckt haben.
Am Rand der Ausrottung
In früheren Generationen waren Ackerwildkräuter die ständigen Begleiter der Landwirte, waren als Unkraut verschrien, weil sie die Ernte verunreinigten. Immer effektivere Herbizide und immer besser gereinigtes Saatgut setzte den vermeintlich überflüssigen Pflanzen in den vergangenen Jahrzehnten so heftig zu, dass viele Arten an den Rand der Ausrottung gerieten. Und mit ihnen auch Insekten, die die kleine bunte Gesellschaft als Lebensraum benötigen.
Allen voran der Hildesheimer Botaniker Dr. Heinrich Hofmeister (1934-2014) war es, der sich für das Ackerwildkraut auf der Wernershöhe einsetzte. Er gründete 1981 nicht nur die Botanikgruppe im Ornithologischen Verein (OVH), er kartierte auch zahllose Biotope in Niedersachsen – und gab den Anstoß, die Wernershöhe unter Schutz zu stellen.
Eigentlich eine ziemliche Zumutung: Das Land gehört seit ewigen Zeiten dem Grafen zu Wrisbergholzen, seit 1987 hat es die Paul-Feindt-Stiftung des OVH gepachtet und Landwirt Bertram zur Bewirtschaftung überlassen. Aber was heißt schon Bewirtschaftung?! Das gültige EU-Programm sieht vor, dass der Landwirt hier ackern muss (!), aber keine Ernte einbringen darf (!). Spritzen ist ebenso verboten wie düngen, denn beides würde den genügsamen Ackerwildkräutern schaden.
„Für einen Bauern, dessen Aufgabe darin besteht, Nahrungsmittel zu produzieren, ist das ja eigentlich eine ziemliche Zumutung“, sagt Bernd Galland, Vorsitzender der Paul-Feindt-Stiftung, der die Pflanzengesellschaft auf der Wernershöhe kennt wie nur wenige. Und doch hat Galland in Bertram inzwischen einen überzeugten Mitstreiter gefunden, der „mit Herzblut“ (Galland) bei der Sache ist.
Natur erobert Lebensraum zurück
Inzwischen grenzt es fast an ein kleines Wunder, wie sich die Natur ihren Lebensraum zurückerobert hat, längst verloren geglaubte Pflänzchen selbst nach Jahren plötzlich wieder da sind. Regelmäßig kartieren ehrenamtliche Botaniker den 500 Meter langen Acker. Dabei durchkämmen sie einen zehn Meter breiten Streifen von oben nach unten, von rechts nach links – und notieren alles, was ihnen auf diesem einen Hektar vor die Füße kommt.
„Guck mal hier, ein Zahntrost“, freut sich Maria Galland, die in Botanik mindestens so bewandert ist wie ihr Mann. „Diese Pflanze hier heißt Venuskamm, ist das nicht ein hübscher Name?“, sagt Maren Burgdorf, die heutige Leiterin der OVH-Botanikgruppe. „Die Früchte des Doldenblütlers sehen nämlich aus wie ein Kamm“, erklärt sie den geradezu lyrischen Namen.
Wer oberhalb des Ackers auf der idyllischen kleinen Gartenbank Platz nimmt, hat einen weiten Blick über den Acker, die sanfte Hügellandschaft im Hintergrund. Und bei klarem Wetter sieht man von hieraus sogar den Brocken. In der Luft zieht der Rotmilan seine Kreise, und wer genau hinhört, kann sogar dem Gesang der Feldlerche lauschen. Nicht ohne Grund wurde dieser Vogel wegen seiner schwindenden Brutbestände schon zwei Mal, 1998 und 2019, zum Vogel des Jahres ernannt. Hier aber findet er ideale Lebensbedingungen.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, erzählt Galland, habe Graf Werner hier oben eine Außenstelle seines Gutes errichten und eine Eschenallee in Richtung Dorf anlegen lassen. Früher wurden die Bäume als Scheitelbäume genutzt, doch weil sie schon lange nicht mehr „auf den Stock gesetzt“ wurden, haben sie inzwischen eine imposante Größe erreicht. Auch dies ein sehenswertes Natur- und Kulturdenkmal. Ein Wirtschaftshof ist Graf Werners Gebäude schon lange nicht mehr: Bis in die 1980er Jahre war es Jugendherberge, heute ist es Treffpunkt von Kulturschaffenden.
Eisbär am Wegesrand
Wer nur einen kleinen Spaziergang machen möchte, kann am Ende der Eschenallee nach rechts abbiegen, am Kunstobjekt Eisbär vorbei wieder rechts zurück auf das Plateau gehen. Am Fuß des Hügels liegt – von oben nicht sichtbar – das charmante Dorf Wrisbergholzen, das es wegen seiner schönen Fayencen zu einiger Berühmtheit gebracht hat.
Wer mag, kann seinen Spaziergang hinauf zur Wernershöhe auch von hier aus antreten und entweder rechterhand durch das kleine Wäldchen oder links durch die Wacholdertrift gehen, wo ein Kalkhalbtrockenrasen mit ganz eigenen Pflanzengesellschaften überrascht.
Inzwischen wird auf der Wernershöhe auch das an Bertrams Wildkräuter-Paradies angrenzende Flurstück extensiv als „Acker ohne Ernte“ bewirtschaftet. Und langsam, ganz langsam, wandern die ersten Ackerwildkräuter in die Fläche ein. Bernd Galland sorgt sich dennoch: 2023 läuft der Pachtvertrag des OVH aus. Ackerwildkräuter sind zwar streng geschützt, doch zugleich gestattet die Gesetzgebung Landwirten, ihren Acker im Rahmen der Vorschriften so ertragreich wie möglich zu bewirtschaften. Das wäre das Ende des wunderbaren Ackerwildkraut-Projekts auf Wernershöhe.
Hinweis: Weil die Straße von Wrisbergholzen über den Berg nach Alfeld zwischen dem 13. Juli und 21. August voll gesperrt ist, kann man die Wildkraut-Äcker in dieser Zeit nur von Wrisbergholzen aus erreichen. Ansonsten führt in Höhe der Bushaltestelle eine schmale Abzweigung von der Landesstraße aus hinauf zur Kulturherberge.
© Hildesheimer Allgemeine Zeitung 11 Juli 2020