Schätze vor unserer Haustür: Die Streuobstwiese Groß Düngen
Aus der HAZ am 15. Aug 2020
In Stadt und Kreis gibt es viele landschaftliche Besonderheiten, um die uns Naturliebhaber aus anderen Regionen beneiden. Die HAZ stellt sehenswerte Naturreservate vor. Heute: die Streuobstwiese in Groß Düngen
Die Streuobstwiese Groß Düngen ist fast 100 Jahre alt- und mit mehr als 5 ha eine der größten und zugleich sortenreichsten in ganz Niedersachsen.
Ob die Gebrüder Grimm damals wohl durch Groß Düngen gewandert sind, bevor sie die Geschichte von den beiden Schwestern – „die eine schön und fleißig, die andere faul und hässlich“ – zu Papier gebracht haben? Denn südlich der Bundesstraße 243 breitet sich oberhalb der Ortschaft eine der landesweit größten und zugleich vielfältigsten Streuobstwiesen aus. Und dort biegen sich die Bäume gerade unter der Last der vielen süßen Früchte, die vor dem strahlend blauen Himmel mit ihren roten oder goldgelben Bäckchen einfach zum Reinbeißen aussehen.
Doch um es vorweg zu nehmen: Die Bäume sind nicht zum Plündern für jedermann gepflanzt. Das 5,3 Hektar große Privatgelände dient zum einen der Erhaltung alter, vom Aussterben bedrohter Obstsorten. Zum anderen ist durch den Einsatz eines Patenkreises, der beim Ornithologischen Verein (OVH) angesiedelt ist, ein ökologisch wertvoller Lebensraum entstanden, der vielen seltenen Tier- und Pflanzenarten einen Rückzugsraum bietet.
Streuobstwiesen, also Wiesen, auf denen locker verstreut hochstämmige Obstbäume verschiedener Arten und Sorten und verschiedenen Alters wachsen, gab es früher praktisch in jedem Dorf, denn die Früchte waren für die Bewohner Vitaminspender in Zeiten, als Zitronen noch vorrangig in den Orangerien der Herrscherhäuser kultiviert wurden. Mit der Globalisierung der Lieferströme kamen nicht nur immer neue Arten in die Läden, in den Dörfern verschwanden auch die Obstbaumwiesen, deren Früchte sich nur noch mühsam gegen die im großen Stil produzierte makellose Ware aus aller Herren Länder durchsetzen konnten. „Inzwischen werden nur noch 22 Prozent des Obstes, das in Deutschland gegessen wird, in Deutschland produziert“, sagt die Hildesheimerin Doris Schupp, die den Patenkreis koordiniert und Ansprechpartnerin für Interessierte ist.
Einmal im Monat trifft sich die zehnköpfige Gruppe, um sich dem Wohlergehen ihrer Lieblinge zu widmen. Viele Namen klingen selbst wie aus dem Märchenbuch: Goldparmäne, Roter Berlepsch, Weißer Winterglockenapfel, Kaiser Wilhelm oder Landsberger Renette. Alle Bäume sind durchnummeriert und sorgfältig in Listen vermerkt. G14? Ist Krügers Dickstiel, der vor 1850 in Mecklenburg entstand und 2002 Streuobstsorte des Jahres wurde. „Bei Äpfeln gibt es immer zwei Reifepunkte“, sagt der Wesselner Horst Voigt, der sich vor 40 Jahren dem Patenkreis anschloss und heute das älteste Mitglied ist. „Erst kommt die Pflückreife, wenn sich Apfel leicht vom Baum lösen lässt, dann die Genussreife, wenn er anfängt zu duften und sein volles Aroma entfaltet.“ Diese Genussreife ist bei jeder Sorte zu einem anderen Zeitpunkt erreicht. Der Rosenapfel Croncel schmecke schon im September herrlich nach Ananas. Weil die Sorte aber druck- und transportempfindlich und nicht länger als einen Monat lagerfähig ist, findet man sie in Supermärkten kaum noch.
Herbert Durant ist seit vielen Jahren Mitglied im Patenkreis und neben Horst Vogt einer der treuesten Mitgliedern
Der Nachbarbaum ist der Winterapfel Ontario. Er entwickelt erst im Januar sein Aroma. 1922 wurde er von der Deutschen Obstbaum-Gesellschaft als eine von drei Apfelsorten zur Reichsobstsorte gekürt. Ziel dieser eigenwilligen Auswahl war es, das Sortenspektrum zu „vereinheitlichen“ und nur widerstandsfähige Sorten, die sich durch geschmackliche und wirtschaftliche Eignung auszeichneten, zu berücksichtigen. Neben Ontario waren das der Rheinische Bohnapfel und Jakob Lebel. Die Weltwirtschaftskrise und der Zweite Weltkrieg verhinderten eine nennenswerte Umsetzung im Obstbau.
Und so sind die Paten der Streuobstwiese heute stolz, auf ihrer Wiese zwei Dutzend Apfel-, sieben Birnensorten sowie diverse Süß- und Sauerkirschen, Mirabellen, Quitten und Zwetschen zu kultivieren. Unter den 300 Bäumen sind auch lokale Sorten wie die Hildesheimer Saftrenette, ein hellgelber saftiger Apfel, und die Borsumer Hauszwetsche, deren Früchte eine länglich-ovale Form haben. Das Obst ernten die Paten, aber auch Kindergärten und Grundschulen werden beschenkt. Wer jedoch glaubt, eine Streuobstwiese wachse einfach vor sich hin – in Groß Düngen seit fast 100 Jahren –, irrt. Immer wieder müssen die Paten Rosen, Brombeeren und Weißdorn zu Leibe rücken, deren Wurzeln mit denen der Bäume konkurrieren. Zudem mäht der Bethelner Bauer René Bergmann das Gras oder lässt seine Schafe für Milch für seine Hofkäserei weiden.
Die Paten sorgen dafür, dass die Bäume beschnitten und neue gepflanzt werden, wo alte das Ende ihrer Lebenszeit erreicht haben. „Aber gedüngt wird nicht“, betont Pate Herbert Durant. Das würde auch den Wildblumen nicht bekommen. Im Frühling wachsen hier Hohler Lerchensporn und Duftende Schlüsselblumen, im Laufe des Sommers kommen Odermennig, Kuckuckslichtnelken, Flockenblumen, Labkraut und Wilde Möhre hinzu. Besonders schön anzusehen: das rosa blühende Tausendgüldenkraut, ein Enziangewächs.
Fast jeden Baum ist m98t einer Nistkasten besetzt
Ursprünglich gehörte das Land einem Bauern im Ort. Als der kinderlos verstarb, erbte es die katholische Kirche. 1982 pachtet es die Paul-Feindt-Stiftung des OVH, 1998 kaufte sie es und erweiterte das Areal um zwei „Ausgleichsflächen“, mit denen Umweltsünden für die Anlage des Golfclubs in Bad Salzdetfurth und die ICE-Trasse durchs Leinetal kompensiert werden sollten. Zwei weitere Teilstücke wurden dem OVH geschenkt.
Wer Geduld mitbringt, kann einen Neuntöter entdecken oder einen Kleiber, von der Anwesenheit der Bunt-, Mittel- und Kleinspechte zeugen die Löcher, die diese bei ihrer Futtersuche ins Totholz alter Stämme geklopft haben. Der aufgeschüttete Steinhaufen soll Mauereidechsen einen Unterschlupf bieten, in der Benjeshecke aus Baum- und Strauchschnitt fühlen sich Igel, Mäuse und Wiesel wohl.
Von der Obstwiese ist es nicht mehr weit zu den Röderhofer Teichen. Über eine imposante Allee mit uralten Scheiteleschen geht es Richtung Wald, wo am Rande Waldmeister, Lungenkraut, Storchschnabel und Goldnessel gedeihen. Jetzt ist es an den Teichen ziemlich ruhig, allenfalls springt vom schlammigen Ufer ein Teichfrosch ins Wasser. Doch im Frühjahr, wenn der Laichzug der Amphibien beginnt, ist hier der Bär los: 25 000 Erdkröten, dazu seltene Teich-, Berg-, Kamm- und Fadenmolche drängt es todesmutig über die Asphaltstraße zum Wasser. Und auch hier sind es wieder die Ehrenamtlichen, die mit ihren Lurch-Rettungsaktionen einen großen Beitrag zum Naturschutz leisten.
© Hildesheimer Allgemeine Zeitung