In Stadt und Kreis gibt es viele landschaftliche Besonderheiten, um die uns Naturliebhaber aus anderen Regionen beneiden.
Die HAZ stellt sehenswerte Naturreservate vor. Letzte Folge: Der Mastberg
Aus der HAZ 12. Sep. 2020
Von Marita Zimmerhof Fotos Werner Kaiser
„Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt“, klagte schon Wilhelm Tell in Schillers gleichnamigem Drama. Das gilt auch für die Prachtlibellen, die entlang der Innerste ihre Reviere haben. Eines der Männchen mit den schönen metallisch-blauen Flügeln hat sich einen Halm erobert, der in Höhe des Mastbergs aus dem gemächlich dahinfließenden Wasser ragt. Ein idealer Platz, um ein Weibchen zu becircen, denn das braucht später eine Pflanze, um nahe der Wasseroberfläche seine Eier ablegen zu können. Doch was da naht, ist nicht etwa eine paarungswillige Sie, sondern ein anderes Männchen, das auf das nur zwei, drei Meter breite Revier in Ufernähe scharf ist. Mit drohend gespreizten Flügeln macht der Hausherr deutlich, was er davon hält. Ein paar Mal muss er den Konkurrenten noch anfliegen. Dann ist die Sache geklärt. Der Eindringling sucht das Weite.
Auf uns Menschen wirkt die kleine Keilerei aus dem Reich der Libellen allerdings wie ein anmutiger Reigen. Wer mit offenen Augen durch die Natur geht, kann überall teilhaben an spannenden Geschichten, die sich manchmal im Großen, manchmal aber auch ganz im Kleinen abspielen. Der Rundweg unserer Sommerserie führt dieses Mal in das Naturschutzgebiet und Fauna-Flora-Habitat rund um den Mastberg, einem flachen Bergrücken westlich der Innerste zwischen Himmelsthür und Hasede. Seit den 1980er Jahren ist das Areal streng geschützt. Schon am frühen Vormittag herrscht entlang der betonierten Panzerstraße, die vom Linnenkamp abzweigt, reger Betrieb: Hundehalter gehen Gassi, Jogger geben Gas. Doch es lohnt sich, einen Moment innezuhalten.
Die breite Wiese, auf der Schäfer Wolfgang Marhauer gelegentlich seine Schafe grasen lässt, ist selbst jetzt noch ein Blumenmeer. Wilde Möhre, Schafgarbe und Kleine Bibernelle blühen zwischen den Gräsern. Und auch die Dornige Hauhechel mit ihren rosaroten Schmetterlingsblüten. Weil, wie der Name verrät, ihre Stängel mit spitzen Dornen überzogen sind, verschmähen sie die Schafe. Für Maren Burgdorf, die Botanik-Expertin im Ornithologischen Verein (OVH), ist der Halbstrauch deshalb ein ganz typischer Bewohner der Weidewiesen. Da er, wie viele Leguminosen, in seinen Wurzelknöllchen eine Symbiose mit stickstofffixierenden Bakterien eingeht, trägt er zur Fruchtbarkeit des Bodens bei. Zudem ist er eine gute Bienenweide.
Entlang des Weges zieht sich über mehrere hundert Meter schon bald ein schmaler Saum von Hainbuchen, auch Weißbuche genannt. Auf den ersten Blick scheint es sich um junge Bäume zu handeln, die bislang nur vier Meter in die Höhe geschossen sind. Doch der Eindruck trügt. Vielmehr handelt es sich um über 100 Jahre alte Schneitelbäume. Über Generationen dienten sie der Brennholzgewinnung, denn als Wärme noch nicht bequem aus der Gasleitung oder dem Öltank kam, war Brennstoff ein kostbares Gut. Und die meisten Bergrücken rund um Hildesheim waren längst abgeholzt und dienten als Viehweide.
Die Schneitelhainbuchen im Gespenste´rwald: mit wenig Fantasie schauen den Spaziergänger aus den knorrigen Stämmen Gesichter an. Schaurig-schön
Also schnitten die Holzsammler immer wieder armdicke Äste aus der Krone, aus der in den nächsten Jahren frische Zweige nachwuchsen. Bis die nach etwa 10 bis 15 Jahren wieder „erntereif“ waren. „Die Bäume wurden regelrecht geköpft“, sagt Michael Eikemeier, der zuständige Förster der Niedersächsischen Staatsforsten. „Wirklich gut tut das dem Baum nicht, denn jede Wunde ist eine Eintrittsstelle für Pilze und andere Schädlinge.“ Entstanden sind so aber bizarre, knorrige Stämme mit frischem grünem Schopf, die mit ihren Wulsten, Höhlen und Verwachsungen mit Phantasie geheimnisvolle Gesichter erkennen lassen. Geisterbäume werden sie auch genannt, denn wer sich als ängstliche Kreatur an einem nebligen Novembertag in einen solchen Wald verirrt, dürfte sich tatsächlich von unheimlichen mystischen Wesen umgeben fühlen, die mit ihren langen dünnen Zweigen nach einem greifen. Brrr.
Mit großem Arbeitsaufwand sorgen die Staatsforsten heute dafür, dass dieses lebende Museum mit seinen seltenen Exponaten erhalten bleibt. Denn ohne Schneiteln würden die alten Stämme auseinanderbrechen. Die abgelegten Zweige bieten als Reisighaufen noch allerlei Vögeln und Kleinsäugern Unterschlupf und sorgen für eine ausgeglichene Nährstoffbilanz im Boden. Doch auch für Käfer ist das hier ein Paradies. Ornithologe Manfred Bögershausen, der im Vorstand der Paul-Feindt-Stiftung für die Verwaltung der insgesamt rund 1000 Hektar Schutzgebietsfläche mit zuständig ist und die Schneitelbuchenaktion in den 1980er Jahren wieder ins Rollen gebracht hat, nennt nur einige: Lederlaufkäfer, Pochkäfer, Braunschröter, Breitmaulrüssler …
Hinter der Allee der Geköpften stehen hohe alte Buchen und Eichen mit glattem Stamm. Warum das? Weil diese Wälder früher auch der Buchecker- und Eichelmast dienten und dafür sorgten, dass das Weidevieh im Herbst kräftige Schinken ansetzte. Hier beginnen die Zweige erst in zwei Metern Höhe, dort, wo die hungrigen Mäuler der Tiere nicht mehr hinreichten.
Am kargen Wegrand haben sich andere Spezialisten angesiedelt: das Kleine Habichtskraut etwa, das seine pelzigen Blätter in flachen Rosetten eng an den Boden drückt. Wird es ihm zu trocken, dreht es die grünen Blättchen einfach um. Deren Unterseite ist fast weiß, so dass das einstrahlende Licht reflektiert wird.
Durch ein Wäldchen führt der Weg an die Innerste. Leider ist die marode Brücke zur rechten Uferseite, dem Bungenpfuhl, gesperrt. Fußgänger müssen am linken Ufer bleiben. Fast unberührt sieht die Innerste hier aus. Und tatsächlich verraten Fußabdrücke, dass hier der Biber wieder vorbeischaut. Der größte heimische Nager war fast ausgerottet. Durch konsequenten Schutz erholen sich die Bestände langsam. Weil er nacht- und dämmerungsaktiv ist, bekommt man ihn allerdings kaum zu Gesicht. Den querliegenden Baum im Wasser hat der Pflanzenfresser allerdings nicht gefällt.
Der Bungenpfuhl ist eine Feuchtwiese, die immer wieder überflutet wird. Der OVH hat hier mehrere mit Büschen und Bäumen umstandene Tümpel angelegt, in denen sich Amphibien wohlfühlen. Die bereits gemähte Wiese sieht in ihrem frischen Grün hingegen aus wie ein nobler Golfplatz. Mit dem Artenreichtum einer ungedüngten Wiese kann sie nicht mithalten. Doch der Bungenpfuhl mit seinem angrenzenden Wald ist dennoch Heimat für viele Lebewesen: Nachtigallen, Sumpfrohrsänger, Beutelmeisen leben hier. „Und allein fünf Spechtarten“, sagt Ornithologe Wolfgang Pahl. Dazu diverse Heuschrecken, 12 verschiedene Schnecken- und 39 Spinnenarten sind kartiert. Wer sich den Blick fürs Kleine bewahrt hat, dem wird es auch hier nicht langweilig.
© Hildesheimer Allgemeine Zeitung