Wasservögel gehen zu neugierigen Beobachtern auf Distanz

Leine-Deister-Zeitung: Die Woche 01.12.2021

Teilnehmer an der OVH Exkursion  zur den Kiesteichen Nordstemmen Nord.         Fotos M Plitzko

Von M Plitzko

Rössing – „Vor 100 Jahren habe es noch kaum Wasservögel im Leinetal gegeben“, beginnt Alistair Hill vom Ornithologischen Verein Hildesheim (OVH) seine Einführung der morgendlichen Exkursion am Rössinger Sportplatz. Erst mit der „Auskiesung“ und den dadurch entstande- nen Teichen hätten sich Wasservögel hier als Brutvögel angesiedelt oder seien auf dem Durchzug zu beobachten. Klingt logisch, denn: Wasservögel zieht es zum Wasser.

Allerdings sei bei politischen Entscheidungen der Naturschutz und damit in erster Linie der Schutz der Wasservögel im Fall der Rössinger Seenplatte eindeutig die Nummer 2 hinter der „Freizeit“. Nicht nur Wassersportler und Badende, auch Angler, Jäger, Jogger und Hundehalter fordern ihre Rechte, die mit den Zielen des Naturschutzes nicht selten kollidieren. In der kalten Jahreszeit komme die Bedeutung der Seen für die Natur immerhin wesentlich besser zur Geltung als im Sommer. Aber ein Boot oder Surfer auf dem Wasser, und alle Vögel bis auf die robusten Blässhühner könnten vertrie- ben werden.

Nach diesen kritischen Vorbemerkungen zogen Hill und sein Expertenkollege Dr. Johannes Laufer mit neun Interessierten los, um Enten, Rallen und andere auf den verschiedenen Wasserflächen zu beobachten. Am Ende konnten rund zwei Dutzend verschiedene Vogelarten gesichtet werden. Hill hat am Wochenende insgesamt 36 von 40 zu erwartenden Arten erfasst. Schon nach ein paar Schritten erregten ein paar Kernbeißer die Aufmerksamkeit der Naturfreunde. Allerweltsarten wie Elstern, Raben- krähen und Eichelhäher wurden nicht weiter gewürdigt, aber von den Experten aufmerksam registriert. „Die weißen Tauben sind Möwen!“, murrte ein Angler, als sich die ornithologisch interessierte Gruppe am Ufer hinter ihm aufbaute und die optischen Geräte (Spektive die Experten, Ferngläser die Laien) auf den See ausrichtete. Möwen waren tatsächlich einige auszu- machen, in erster Linie Lachmöwen und sie sind als Brutvögel in unserer Gegend selten geworden.

600 Blasshühner

An diesem regnerisch-kühlen Morgen gab es auch einige elegant wippend überfliegende Silberreiher sowie zwei Höckerschwanenpaare. Es gibt also auch an der Leine noch andere weiße Vögel als Möwen. Blässhühner waren mit über 600 Individuen die am häufigsten vertretene Art. Bei ihnen ist jedoch nur die Stirnpartie weiß, sonst ist der häufigste Rallenvogel schwarz. Während die Wasservögel sich langsam auf die entlegene Teichseite zurückzogen, traf noch eine Borsumer OVH-Gruppe ein und zückte die Ferngläser. Gemeinsam sah man Schnatterenten, Pfeifenten, Reiherenten in großer Zahl, wenige Tafelenten und überraschend: kaum Stockenten. Bei den Haubentauchern musste mancher Hobby-Ornithologe zweimal hinschauen, so unscheinbar ist die zur Balz sehr auffallende Art im Winterkleid. Hill und Laufer erläutern, gerade bei vielen Wasservögeln seien auch die Jungvögel des aktuellen Jahres schwierig zu bestimmen, da sie noch nicht ausgefärbt seien – also noch nicht die Optik der Altvögel aufweisen, sondern tendenziell noch mehr Grau. Bei Höckerschwänen oder bestimmten Möwen- arten dauere es mehrere Jahre, bis ein Vogel das Gefieder der Adulten trägt: Deshalb sehe man bei diesen Arten oft auch Exemplare in unterschiedlichen Grautönen.

Die Führung hatten Alistair Hill und Dr. Johannes Laufer (von Links)

Hin und wieder ging der Blick in die Luft, wo Trupps von Kormoranen, Grau- und Nilgänsen problemlos be- stimmt werden konnten. So genannte „Ketten“ von mehreren Hundert Gänsen, die im Norden Richtung Jeinsen/Pattensen in einigen Kilometern Entfernung ausgemacht wurden, waren nicht mehr nach ihrer Art zu bestimmen. Tundrasaat- und Blässgänse und auch Kraniche seien allerdings in den vergangenen Tagen an den Rössinger Teichen zu Hunderten zu sehen gewe- sen und vom OVH erfasst wor- den, so die Experten. Grau- gänse aus dem Bereich Barnten seien jüngst aufwändig mit GPS ausgestattet worden, erzählte Hill den Vogel- freunden. Während ein Individuum eine regelrechte Deutschlandtour über Freiburg, Bremen und Braunschweig hinlegte, habe sich ein anderes mit einem Aktionsradius von fünf Kilometern begnügt. Nilgänse und auch Silberreiher würdigte Hill noch mit einer Sonderbemerkung. Die Arten seien erst seit etwa 30 Jahren vermehrt in Mitteleuropa zu beobachten. Während sich mit dem Silberreiher in erster Linie der Graureiher auseinandersetzen müsse, weil er dasselbe Beuteschema habe, sei die Nil- gans ein äußerst aggressiv auftretender und deshalb zu bekämpfendes Neozoon, weil sie – vergleichbar mit dem Waschbären – eine Gefahr für andere Arten und das ganze Ökosystem darstelle.

Neue Artennamen seien das Ergebnis fortschreitender wissenschaftlicher Möglichkeiten, erläuterte Hill. So hätten Genanalysen die Existenz mehrerer Arten ergeben, zum Beispiel Mittelmeermöwe und Steppenmöwe, die früher mangels genauerer Kenntnisse als Silbermöwen durchgingen. Silbermöwen sehen wir als Nord- oder Ostsee-Ulauber mit Fischkadavern im Schnabel oder als Plünderer von Abfalleimern mit Imbissresten. Eine Steppenmöwe, eher osteuropäische Landbewohnerin mit Hang zu Gewässern, sei im Gegensatz dazu beobachtet worden, wie sie auf einer landwirtschaftlichen Fläche in kurzer Zeit die unglaubliche Menge von 30 Mäusen gefressen habe. In diesem Fall zumindest konnte – außer den betroffenen Nagern niemand einen Zielkonflikt zwischen Natur und Landwirtschaft erkennen.

Mit Experten unterwegs sein hieß auch an den Rössinger Kiesteichen: mehr sehen und hören als sonst. Gimpel, Zaunkönig und Rotdrossel hätten die meisten Teilneh- mer wohl gar nicht regis- triert, einige Enten und Gänse kaum so schnell bestimmen können. So traten die Vogelfreunde um einige Naturer- fahrungen reicher die Heim reise an.

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